Material A
Naturwald Akademie: Worüber Bäume reden (2017)
        […]
        Biologen und andere Wissenschaftler haben erkannt, dass Pflanzen wesentlich mehr
        können, als angenommen. Sie schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen. Zudem
        werden weltweit Belege für das kommunikative Verhalten von Pflanzen gefunden. Ihre
        Kommunikation erfolgt nicht nur zwischen Teilen der Pflanze, sondern auch mit
  5    anderen Pflanzen. Bäume, Sträucher und Kräuter besitzen keine Sinnesorgane und
        kein Gehirn. Dennoch nehmen sie mithilfe der Blätter und der Wurzeln Signale aus der
        Umwelt wahr, z. B. über das Licht oder das Wasser. […]
        Als „Kommandozentrale“ bezeichnet der Zellbiologe Frantisek Baluska von der
        Universität Bonn die Wurzelspitze für die Wahrnehmung der Pflanze. Er hat die
10    gezielte Bewegung und Sensibilität der Wurzelspitze erforscht und […] gefilmt.
        Deutlich sichtbar ist, dass die Wurzelspitze wie ein Wurm durchs Erdreich kriecht. Die
        Wurzelspitze nimmt Wasser oder Giftstoffe wahr, sendet die Botschaften über Zellen
        in die Wurzel, die daraufhin ihre Richtung im Wachsen entsprechend anpasst.
        Die Wurzeln schicken Botschaften aus der Erde an die Blätter in der Höhe. Und die
15    Blätter senden aus der Baumkrone Informationen an die Wurzeln und an andere
        Blätter. Wenn zum Beispiel die Wurzeln zu wenig Wasser finden, übermitteln sie den
        Blättern, dass sie ihre Öffnungen, die Stomata, schließen. Aus den geöffneten Stomata
        würde sonst zu viel Wasser verdunsten.
        Bäume kommunizieren, sie tauschen sich untereinander aus und mit anderen Pflanzen
20    in ihrer Umgebung, mit Pilzen und mit Tieren. So informieren sich Bäume, ob
        Fressfeinde wie Rehe oder Raupen in der Nähe sind. Von Zelle zu Zelle teilen sich die
        Blätter gegenseitig mit, wenn sie gefressen werden oder ein Insekt seine Eier auf den
        Blättern ablegt. Der Baum produziert dann noch mehr chemische Stoffe (wie z. B.
        Tannin in Eichenblättern), die den Fressfeind abschrecken – oder sogar vergiften.
25    Auf den Baum als „Serienmörder“ von Kudus-Antilopen ist der südafrikanische Biologe
        Wouter van Hoven gestoßen. Er untersuchte, warum plötzlich und ohne erkennbaren
        Grund massenhaft Kudus auf den Wildtier-Ranches in Südafrika starben. Die
        Antilopen schienen vollkommen gesund und waren äußerlich unverletzt. In ihrem
        Pansen1 fand van Hoven die Blätter von Akazien, die während einer Dürre die einzigen
30    Pflanzen der Region waren, die noch grüne Blätter hatten. Van Hoven untersuchte die
        Blätter und die Bäume. Er fand heraus, dass die Akazien besonders viel Tannin, ein
        Pflanzengift, produziert hatten, um sich zu schützen.
        Und die Bäume schützten nicht nur sich selbst vor den Fressfeinden. Wenn Tiere an
        ihren Blättern knabberten, sonderten die Blätter Ethylen ab. Die flüchtige Chemikalie
35    benachrichtigte andere Akazien, die daraufhin Tannin zur Abwehr produzierten. Van
        Hoven erkannte: Die Akazien kommunizieren miteinander.
        Die kanadische Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard von der Universität British
        Columbia hat als erste dokumentiert, dass Bäume in einem Wald über ein Wood Wide
        Web miteinander verbunden sind. Mit radioaktivem Kohlenstoff wies Simard nach,
40    dass Bäume durch die Wurzeln und die Fäden der Mykorrhiza-Pilze Nährstoffe und
        Informationen quer durch den Wald austauschen. Fehlen einem Baum Nährstoffe,
        versorgen ihn die anderen Bäume. Simard konnte auch nachweisen, dass sogar
        Bäume unterschiedlicher Arten sich versorgen: Birken versorgten Douglas-Tannen mit
        Nährstoffen.
45    Grundlage für dieses Verhalten ist der ständige Austausch der Bäume mit Pilzen, den
        Mykorrhiza. Jeder Baum lebt in enger Verbundenheit mit diesen Pilzen, die über ein
        feines Wurzelgeflecht den Baum mit schwer erschließbaren Nährstoffen aus dem
        Boden versorgen. Der Baum gibt den Pilzen dafür Zucker, den die Pilze selbst nicht
        bilden können. Die beiden Lebewesen kommunizieren über die Wurzelfäden
50    miteinander und informieren sich gegenseitig über die notwendigen Stoffe.
        Auch mit Tieren kommunizieren Pflanzen. Mithilfe von Duftstoffen rufen sie die
        Fressfeinde ihrer Fressfeinde. Den Trick beherrschen selbst krautartige Pflanzen wie
        der Wilde Tabak. Ian Baldwin, Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische
        Ökologie in Jena, erforscht den Wilden Tabak und hat viele Möglichkeiten der
55    nonverbalen Kommunikation der Pflanze entdeckt. Gegen mehrere Raupenarten setzt
        die Tabakpflanze Nikotin ein. Wenn das nicht ausreicht, lockt sie mit Duftstoffen
        Ameisen und Eidechsen an, die die Insekten fressen. Da der Wilde Tabak bestimmte
        Insekten jedoch für die Bestäubung braucht, lockt die Pflanze diese Tiere auch an und
        bietet den Raupen zuckerhaltige Leckerbissen. Fressen die Raupen zu viel, sterben
60    sie. Dr. Baldwin spricht von der „Rasierklinge im Apfel“. Er hat auch herausgefunden,
        dass die Pflanze am Speichel der Raupen erkennt, wer am Blatt knabbert. Das
        Tabakkraut kann also nicht nur Informationen senden, sondern sie auch empfangen,
        die Botschaft verstehen und umsetzen.
1Pansen: So wird der erste große Abschnitt des Magens von Wiederkäuern bezeichnet.
Naturwald Akademie: Worüber Bäume reden (bearbeitete Fassung). 
URL: https://naturwaldakademie.org/wp-content/uploads/2017/07/Pflanzen-kommunizieren_NA_web_2017.pdf
(Stand: 07.05.2021)