Material A2
Rudolf Baumbach (1840 – 1905):
Der Mond (1885)
Guten Abend, du Rundgesicht,
Hüter der weidenden Sterne,
Nächtlicher Langfinger Arbeitslicht,
Heimlicher Liebe Laterne!
5 Hast mir so oft zum Stelldichein
Still und verschwiegen geleuchtet,
Sahest mit himmlischer Milde drein,
Wenn ich dir reuig2 gebeichtet.
Habe an dir in Gram3 und Leid
10 Stets einen Tröster gefunden,
Oft auch bist du zur rechten Zeit
Hinter den Wolken verschwunden.
Gälte ich etwas bei dem, der thront
Über den rollenden Welten,
15 Wollt’ ich dir gern, du treuer Mond,
All deine Dienste vergelten.
Über den Mond ein Lächeln ging,
Leise hat’s mir geklungen:
Willst du mir danken, o Dichterling,
20 Lasse mich unbesungen.
Baumbach, Rudolf: Lieder eines fahrenden Gesellen. Leipzig: A. G. Liebeskind 1885, S. 20 f.
(orthografisch angepasst).
1 Über eine Liebesbeziehung des Autors ist bekannt, dass sich die Liebenden beim Abschied versprachen,
bei Vollmond aneinander zu denken. Er sandte ihr später das Gedicht zu.
2 reuig: Das Adjektiv zu „Reue“ drückt Schuldbewusstsein aus.
3 Gram: Dies ist ein poetischer Ausdruck für Kummer, Traurigkeit.