Material A1
Anna Kemper: Liebe war ein großes Wort (Dezember 2018)
Es mag seltsam sein, kurz vor Weihnachten weniger Liebe zu fordern. Aber es muss
sein. Denn es reicht. Egal in welches Schaufenster wir blicken oder in welche
Bäckereiauslage, welche Zeitschrift wir aufblättern oder welche Fernsehwerbung wir
sehen: Die Liebe macht sich seit Jahren im öffentlichen Raum breit. Inflationär breit.
5 Es wird, so verrät es uns die Werbung, praktisch nur noch aus Liebe gehandelt: aus
Liebe zur Kartoffel, zum Teig, zum Menschen, aus Liebe zum Bad, zum Backen, zum
Pferd, zum Tee, zum Parkett, zur Wurst und sogar […] aus Liebe zur Zukunft. Der
gesamte Berliner öffentliche Personennahverkehr beruht auf Liebe („Weil wir dich
lieben“). War der Slogan „Wir lieben ...“ früher praktisch unbekannt, wird mittlerweile
10 alles mit Liebe überschüttet: „Wir lieben Bio“, „Wir lieben Tierärzte“, „Wir lieben
Autos“; Naheliegendes wird geliebt wie zum Beispiel Hunde, Pizzen, Kinder, Rosen,
Urlaub, Musik und Bücher; Städte sind auch dabei (Forchheim, Hamburg, Dresden,
Leipzig, Chemnitz); Dinge, die schon lange auf ein bisschen Liebe gewartet haben
(Möbel, Namensschilder, Böden, Horrorfilme, Technik, Lebensmittel, IT, Rechnungen,
15 Logistik, die Weinflasche, Frottee und Männer), und sogar (was ich bei einem Blick
nach unten stark bezweifeln möchte) meine Schuhe. Ihre übrigens auch.
Früher beruhte das deutsche Wirtschaftswunder auf technischer Verlässlichkeit,
heute scheint es ein reines Liebeswunder zu sein. Es wird mit Liebe gebacken,
gebraut, gekocht, gebrüht und überhaupt: gemacht. Ein absurder Liebesboom, dem
20 man nicht entkommen kann. Auslöser scheinen zwei Werbekampagnen im Jahr
2003 gewesen zu sein. Eine deutsche Agentur erfand damals den McDonald’s-
Slogan „Ich liebe es“, und ProSieben wirbt seitdem mit „We love to entertain you“1.
In den 70 Jahren davor gab es nur 130 Werbeslogans, in denen „Liebe“ oder „lieben“
vorkam, in den 15 Jahren danach mehr als 600.
25 Zuerst fiel es bei der Autowerbung auf, die plötzlich mit Emotionen warb statt mit
technischen Details. Die Modelle derselben Fahrzeugklasse unterschieden sich
qualitativ nicht mehr so stark, und wenn Produkte im Prinzip gleich gut sind, bleiben
nur Gefühle, um sie unterscheidbar zu machen. Und Emotionen wirken tiefer als
Argumente. Seit unsere Welt durch das Internet immer technischer geworden ist, hat
30 die Liebesinflation sich rasant verstärkt. Denn die Anbieter von Mobiltelefonen,
Internetportalen und Handyverträgen wissen, dass ihre Produkte austauschbar sind,
und preisen ihre Produkte über im Gegenlicht fotografierte Gefühle an. Der
Wirklichkeit, in der auch wir alle immer gleicher werden, wird die Individualisierung
entgegengestellt: Schau, hier ist etwas, das extra für dich gemacht wurde, wir haben
35 an dich gedacht, du wirst in der Masse mit deinen Bedürfnissen gesehen. Ich tu dir
etwas Gutes. Wir gehören zusammen. Du und ich. Ein warmes Gefühl, das genau
das zurückfordert: Liebe mich! Was ganz schön unverschämt ist: Schließlich ist ein
Handyvertrag am Ende doch ziemlich egal. Und so verschwindet das warme Gefühl
auch so schnell, wie es gekommen ist. Bis uns ein neuer Liebesantrag umwirbt. Dass
40 die romantische Liebe eine Ehe tragen soll, ist ja eine relativ neue Idee.2 Dass sie
jetzt auch noch den Kapitalismus ölen soll, ist eine erstaunliche Karriere für
ein Gefühl.
Nach all den Jahren hat diese Inflation unsere Sprache und uns verändert. Im
Englischen wurde schon immer deutlich großzügiger mit den Wörtern „Liebe“ und
45 „lieben“ umgegangen. Im Deutschen aber war Liebe lange sehr exklusiv für das
große Gefühl zwischen zwei Menschen reserviert. Nicht für Brokkoli. Seit uns aber
unsere Sprache suggeriert, dass nur noch das etwas wert ist, was geliebt wird, prägt
das unsere Ansprüche. An die Arbeit zum Beispiel: Es reicht nicht mehr, dass man
etwas gut kann und gut dafür bezahlt wird – nein, man muss es lieben. Das schafft
50 Raum für Ausbeutung, schließlich sind wir bereit, für Liebe auf Geld und Sicherheit
zu verzichten. Alles geht nur noch mit übersteigertem Gefühl: Wir wollen unsere
Hobbys lieben, die Stadt, in der wir leben, das Essen, das vor uns auf dem Teller
liegt. Bleibt die Emotion aus, glauben wir, dass etwas fehlt – so als würde man von
einem Videospiel aufschauen und das Gefühl haben, der Realität seien die Farben
55 entzogen. Dabei ist es doch meistens vollkommen okay, wenn Dinge einfach ganz
gut sind. Oder schön. Oder Spaß machen. Oder gut schmecken.
Und während die Liebe Dinge aufwerten soll, passiert das, was bei jeder Inflation
passiert: Das Wort Liebe selbst verliert an Wert, weil es auf den Wohlfühlfaktor
reduziert wird. Dabei ist die Liebe schöner und schmerzhafter, aufregender und
60 gefährlicher, erhebender und zerstörerischer, einfach: viel größer als ein in den
Milchschaum gezeichnetes Herz. Und welches Wort wollen wir verwenden, wenn wir
wirklich einmal von dem Gefühl für unseren Partner oder unsere Kinder sprechen
wollen, wenn wir „Liebe“ schon für Getriebeöl benutzt haben? Es ist Zeit, den
rhetorischen Liebesrausch hinter uns zu lassen und wieder etwas auszunüchtern.
Machen wir Schluss. Aus Liebe zur Liebe.
Quelle: Kemper, Anna: Liebe war ein großes Wort. Zeitmagazin Nr. 53/2018 (leicht bearbeitete Fassung).
https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/53/sprachgebrauch-liebe-wort-verwendung-gefuehl-wertverlust
(Abruf: 06.09.2019)
1 „We love to entertain you“: Der Slogan bedeutet: „Wir lieben es, dich/euch zu unterhalten.“
2 Hier wird auf die Liebesheirat verwiesen, die sich erst im letzten Jahrhundert gegenüber der Zweckehe
durchgesetzt hat.